Leseprobe: Jennifer retten!
Arnold
San Francisco, Donnerstag, 14. Juni
Sie war selbst auf dem krisseligen Ausdruck meines Tintenstrahldruckers noch ein Engel. Okay, so ein Lolita-Gesicht ist nicht jedermanns Sache, und die blondierte Mähne, darauf muss man natürlich stehen. Aber unter dem Abschlussball-Kleid, das sie auf dem Foto stolz präsentierte, lauerten Formen, die so gar nicht zu einer unberührten Achtzehnjährigen passen wollten.
Ich faltete das Blatt wieder zusammen und sah Tim von der Toilette wiederkommen. Er bestellte uns Cappuccino am Tresen. Als er die beiden Tässchen in meine Richtung balancierte, stieß er die Lady im Business-Kostüm an, die zwei Tische von uns entfernt auch an so einem Bistrotischchen saß, ein Sandwich aß und die Financial Times las. Typ siamesische Katze, die wissen auch immer genau, wie edel sie wirken und haben diesen überheblichen Blick drauf. Sie saß so kerzengerade, man hätte einen Fahnenmast an ihr ausrichten können! Sie hielt das Sandwich mit zwei Fingern, als wäre es eine tote Ratte, und als Tim gegen ihren Ellenbogen rannte, fiel ihr eine Strähne aus dem hochgesteckten Haar ins Gesicht, wodurch sie etwas mädchenhafter wirkte. Süß. Sie prüfte genervt, ob ihr Ärmel auch keinen Kaffee abbekommen hatte, und würdigte Tim trotz seiner wortgewaltigen Entschuldigung keines Blickes. Die Times war wichtiger. Und mir war plötzlich warm.
Tim kam mit hochgezogenen Augenbrauen herüber und stellte die Tassen auf unserem Tisch ab. Beide hatten das Manöver überstanden, ohne etwas von ihrem überschaubaren Inhalt zu verkleckern.
»Abgeblitzt?«, fragte ich grinsend.
»Pff! Eingebildetes Huhn.« Er schaute auf seine Uhr, murmelte »Scheiße!« und steckte sich seine After-Lunch-Zigarette an. »Also, was wolltest du noch erzählen? Ich muss gleich los.«
»Hast du sicher schon gesehen«, sagte ich, »diese Achtzehnjährige, die im Internet ihre Entjungferung versteigert?« Ich schob den Zettel in seine Richtung.
»Ihr erstes Mal? Echt?« Er zog an der Zigarette und blies den Rauch aus, während er das Blatt auseinanderfaltete und Jennifer betrachtete. Er pfiff leise und sah mich durch die Rauchwolke fragend an. »Kein Fake? Gibt es schon Gebote?«
»Im Moment liegen sie bei $2.550, du kannst dir den ganzen Bietverlauf anzeigen lassen. Läuft noch bis zum vierten Juli.«
»Zweieinhalbtausend Steine? Das ist ne Menge Kies für so‘n junges Ding.« Er legte den Zettel wieder auf den Tisch.
»Klar, warum macht sie es wohl sonst?«
»Und weiter? Willst du drüber schreiben oder bietest du mit?« Er grinste, ich musste lachen. »Nicht ich. Peter MacRuthlin.«
»Ach Scheiße – na, das passt ja. Steht der neuerdings auf Kinder, oder was?«
»Keine Ahnung, ich habe ihn noch nie so begeistert und verzweifelt zugleich erlebt, er hat von ihr geschwärmt wie ein Kind von seinem neuen Spielzeug. Er will sie haben, um jeden Preis, verstehst du? Er ..., ich glaube, er hat sich tatsächlich in die verliebt.«
»Naja, niedlich ist sie ja. Aber Peter kennt sie doch gar nicht, oder? Dieser Mistkerl glaubt auch, das er alles mit seinem Scheiß-Geld kaufen kann.«
Es ärgerte mich ein bisschen, wie abfällig Tim von meinem alten Studienkollegen sprach, aber natürlich hatte er recht. Peter MacRuthlin war der Typ Millionärssöhnchen, der alles von seinen Eltern in den Schoß gelegt bekommen hatte, ohne einen Finger dafür krumm zu machen. Es war halb sechs an diesem Morgen gewesen, als er mich anrief. Doch etwas war anders als sonst: Er überschüttete mich mit einer kindlichen Begeisterung, die nicht zu einem schwerreichen 36-Jährigen passen wollte. Keine Spur von seiner Überheb-lichkeit, er holte kaum Luft zwischen den Sätzen, und ständig dieser Name: Jennifer. In seiner Stimme schwang etwas Melodramatisches mit, das machte ihn so ... menschlich. Und das war eine Seite, die mir völlig neu an Peter war.
Als wir aufgelegt hatten, musste ich erstmal laut lachen. Das war einfach zu dämlich! Peter MacRuthlin, steinreicher Gebieter über zig Motels und Restaurants, die sich wie einst die Schwarze Pest in Europa quer über den nordamerikanischen Kontinent verbreiteten und die mittelständische Konkurrenz auffraßen, dieser gnadenlose MacRuthlin, der gerade die Expansion seiner Kette nach Europa vorantrieb, bettelte um Hilfe, wenn es um das Herz eines Teenagers ging. Eines Teenagers!
Ich musste grinsen, als ich daran dachte, und Tim sah mich stirnrunzelnd an. Er nippte an seinem Cappuccino und stellte die Tasse klirrend wieder ab. »Wie heißt die In-ternetseite?«
»Irgendwas mit sinfulbids.com. Hier, nimm den Ausdruck mit.«
Er faltete das Blatt und steckte es in seine Sakkotasche, während ich die Managerin beobachtete, die ihr Sandwich aufgegessen hatte und den leeren Teller und ihr Wasserglas in die Mitte des kleinen Tisches schob, als wüsste der Kellner sonst nicht, dass er abräumen darf. Sie steckte sich ein Bonbon in den Mund und stand von ihrem Hocker auf, nahm ihr Aktentäschchen und kam auf uns zu. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, unser Tisch stand mitten im Weg zum Ausgang. Ich saß wie immer zu gekrümmt und richtete mich auf. Zu auffällig? Ihre Aktentasche stupste mich am Arm, ich roch ihr fruchtiges Parfum. Hatte sie mich angeschaut? War da eine Bewegung um ihre Mundwinkel? Tim schickte ihr eine kindische Grimasse hinterher, während sie sich draußen vor das Fenster stellte und son-nenbebrillt Zahlen in ihr Handy drückte.
»Und was genau kriegt der Sieger?«, fragte Tim.
»Zwei Tage und eine Nacht an einem Ort seiner Wahl in den Staaten, er bezahlt alle Reisekosten und Spesen. Dafür lässt sie ihn ran. Normaler vaginaler Sex, höchstens oral, keine Perversitäten, kein SM, keine Fesselspielchen, kein Video, keine weiteren Personen.«
»Und sie nimmt jeden, der gewinnt? Da machen doch sicher nur so notgeile Böcke mit, die ohne Geld keine Frau abbekommen.«
»Sie hat eine Rücktrittsklausel. Sie kann jederzeit, auch im letzten Moment noch die Sache abblasen –«
Tim fing schallend an zu lachen und puffte dabei Rauchwölkchen in die Luft ob meiner ungewollt zweideutigen Wortwahl.
Ich grinste nur und sah, wie die Managerin in ihr Handy diskutierte und immer wieder kurz zu uns hereinblickte, als ob sie gerade mit ihrem Anwalt sprach, weil ihr Sandwich schimmelig gewesen war und sie jetzt wissen wollte, ob sie den Laden verklagen oder das halb verdaute Sandwich auf die Theke kotzen sollte.
Sie stand genau neben meinem und Tims Spiegelbild in der Fensterscheibe, und ich malte mir aus, wie ich wohl zu ihr passen würde. Könnte eine wie sie etwas an einem Arnold Thomas finden? Sofort kam mir meine Stirn zu hoch und die Nickelbrille zu billig vor, und zum Friseur musste ich auch längst wieder. Ich musste schnell wieder wegsehen, als könnte ich damit verhindern, dass die Managerin mich so betrachtete. Ich schwitzte. »Wenn sie nein sagt, kriegt er das ganze Geld zurück«, fuhr ich fort, »die Reisekosten, alles.«
»Also entweder ist sie saudumm oder absolut abgezockt«, sagte Tim. »Und was hast du nun mit der ganzen Sache zu tun? Braucht MacRuthlin jemanden zum Quatschen, weil er niemandem sonst seine Vorliebe für minderjährige Internetbräute gestehen kann?«
»Also, das ist echt verrückt«, begann ich und wurde jäh unterbrochen.
»Excusez-moi, kann ich kurz Sie stören, Messieurs? Ich komme aus Kanada und bin neu in dieser Stadt. Sie haben sicher einen Tipp für das beste Restaurant, wo ich kann ausprobieren die kalifornische Küche einmal?«
Da stand sie neben mir, graugrüne Augen leuchteten uns mit fragender Liebenswür-digkeit an, und, Mann, ich habe noch nie so aufregende Augen gesehen! Sie verströmte wieder dieses fruchtige Parfum, dazu der Atemhauch eines Eukalyptusbonbons, eine stimmige Mischung. Ihre Stimme war weich, eine Spur zu unsicher für ihr Outfit. Siame-sische Katze auf Schmusekurs? Ich starrte sie wohl einen Moment zu lange an, denn die Managerin sagte beschämt: »Verzeihen Sie bitte mein aufdringliches Auftreten. Ich habe gerade gegessen neben Ihnen, und als ich sah Sie beide, dachte ich, Sie kennen sich sicher gut aus in diese Stadt. Oh, aber vielleicht es war eine dumme Idee, bitte entschuldigen Sie ...«
Tim warf mir grinsend einen Blick zu, als wollte er sagen: Von wegen abgeblitzt! und fiel der Managerin ins Wort: »Keineswegs! Da fällt mir sogar ganz etwas Vortreffliches ein, aber ich kann es unmöglich zulassen, dass Sie in einer fremden Stadt alleine ausgehen. Noch dazu bin ich Ihnen etwas schuldig!«, sagte er mit seinem charmantesten Lächeln – welches sofort an Form und Halt verlor, als sie antwortete: »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber bitte entschuldigen Sie mich vielmals, dass ich gehofft hatte, dieser Gentleman könnte mir machen die Freude seiner Begleitung.« Und dabei sah sie mich an! Ich glaube, mein Herzschlag setzte kurz aus, jetzt fing es in meinem Magen an zu brennen. »Aber gerne, Señorita«, war alles, was ich von mir gab, denn jetzt sah sie mir in die Augen, und mir fiel auf, dass Señorita Spanisch statt Französisch war. Ich kam mir vor wie ein Teenager! Mir wurde noch heißer, stand mir schon der Schweiß auf der Stirn? Ich rutschte auf meinem Hocker herum, und sie lächelte, als ob sie genau wusste, was gerade in mir vorging.
Tim schwang sich von seinem Hocker. »Okay, Arnie, ich muss sowieso zum Termin, wir reden später weiter, ja?« Damit meinte er ganz offensichtlich nicht nur die Inter-net-Geschichte, sondern auch das sich anbahnende Date mit der Managerin. »Au revoir, Mademoiselle«, sagte er galant, griff sich sein Zigarettenpäckchen und sein Handy und war weg.
Sie setzte sich mit einer Pobacke auf den frei gewordenen Stuhl, holte die Financial Times aus ihrer Aktentasche und schrieb mit einem Stift etwas auf den Rand der Titelseite, während ich verzweifelt nach Worten für die Fortsetzung unserer jungen Konversation suchte.
»Das ist die Nummer meines Mobiltelefons, leider muss ich gehen schon wieder auch.« Sie lächelte entschuldigend, riss die Ecke mit der Nummer ab und hielt sie mir hin. »Rufen Sie mich an? Ich bin schon sehr gespannt, wohin Sie werden mich entführen!«
»Na klar. Ich melde mich auf jeden Fall«, sagte ich, weil mir einfach nichts Besseres einfiel. Wir lächelten uns scheu wie Schulkinder an, als ich die Nummer entgegennahm, die mit schwungvollen Ziffern neben dem Namen Christine Laforet stand, dann rutschte sie vom Hocker und ging. Ich sah ihr lange nach.
Klaus
Bamberg, Freitag, 15. Juni
Kurz bevor der Zug zum Stehen kam, sah er sie neben dem Wagenstandanzeiger stehen. Nach wie vor ein Hingucker, gertenschlank und trotz der etwas großen Nase auf ihre Art einfach hübsch.
Sandner stieg aus, stellte sein Köfferchen ab und hob seine Schwester hoch. Sie quietschte genießerisch und fuhr ihm durch die Locken, zupfte an der Krawatte, »Na, Großer, toll siehst du aus!«
»Und du erst. Hast du dich für mich so schick gemacht?«
»Na, bei der seltenen Ehre, die du uns erweist!«
Der Parkplatz war in orangerotes Abendlicht getaucht. Sandner entdeckte den wie immer blitzsauberen BMW seiner Mutter. Nina entriegelte ihn per Funk und hielt ihm den Schlüssel hin. »Willst du?«
Er verstaute das Köfferchen auf den Rücksitzen, öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den weichen Sitz fallen. Aprikose wehte ihm vom Duftbäumchen am Rückspiegel entgegen. Er war zu Hause.
Nach dem Ortsausgang von Bamberg zerrte sich Sandner mit einer Hand die Krawatte vom Hals und warf sie nach hinten. Er öffnete alle Fenster und das Schiebedach, Nina verschränkte lächelnd die Arme hinter ihrer Kopfstütze und schloss die Augen. Der warme Fahrtwind, das Abendlicht, die vertrauten Straßen, der Duft von sonnentrockenem Heu. War es nicht erst gestern gewesen, dass er Abitur gemacht und dieser Idylle den Rücken gekehrt hatte?
»Bist du nervös?«, fragte Nina.
»Schon.« Er spürte, wie sich sein Magen regte. Hunger? »Wie ernst ist es diesmal?«, fragte er.
»Ziemlich, glaube ich. Mama hat sowas angedeutet, dass wir sie im Stich gelassen hätten.«
»Wir beide? Na klasse, jetzt sind wir also schuld.«
»Das hat sie nicht gesagt. Nur hat sie halt keinen mehr zum Reden, seitdem wir beide ausgezogen sind. Weißt du, keinen Ausgleich zu seinen ...«
»Ego-Anfällen.«
Nina schnaufte leise.
»Ziemlich daneben, das jetzt auf uns zu schieben«, sagte Sandner.
»Naja, ganz Unrecht hat sie ja nicht. Wenn du denkst, wie wenig Zeit du seit deinem –«
»Ach, jetzt bin ich der Böse?«
»Geh, nein, aber du bist halt viel weniger zu Hause, seitdem du in dieser Werbeagentur arbeitest, ist ja auch klar. Berlin ist nun mal eine Ecke weiter weg als Nürnberg.«
»PR-Agentur.«
»Was?«
»Ich mache Public Relations und keine Werbung.«
»Wo ist denn da bitte der Unterschied?«
»Ach Nina, das habe ich dir schon so oft erklärt. Wenn du Werbung machst, gehst du direkt an den Endverbraucher, mit Plakaten, Fernsehspots und so, und als PR-Berater –«
»Jaja, schon gut, letzten Endes ist es ja doch alles Werbung, um von irgendwas mehr zu verkaufen, oder? Erzähl mir lieber, was es Neues in deinem Liebesleben gibt!«
Er musste grinsen.
»Was ist denn mit den Berliner Bräuten? Bist du jetzt mit dieser Jana zusammen, oder was?«
»Das ist nicht so einfach. Sie kann sich noch nicht so richtig losreißen von ihrem –«
»Oh Mann, sag ihr doch mal, dass sie sich endlich entscheiden soll! Warum spielst du da überhaupt noch mit?«
Er schwieg.
»Oh nein, Klaus Sandner, ich kenne diesen Blick! Da ist doch nicht immer noch Annette im Spiel!«
»Naja ...«
»Was naja!«
»Es kann halt noch keine richtig mit ihr mithalten!«
»Das kann doch nicht wahr sein, das ist jetzt fast drei Jahre her! Das kannst du mir nicht erzählen, dass du immer noch alle mit ihr vergleichst. Und sooo hübsch war Annette ja nun auch wieder ... hey, nicht!« Sie quiekte spitz, als Sandner ihr in die Taille pikste.
»Ich hab grade was total Krasses im Zug gelesen. Hat mir Tim aus San Francisco ge-mailt. Weißt du, der mal für zwei Semester mit mir in Berlin an der Uni war?«
»Ja, klar. Und was?«
»Da ist ein Mädchen in Amerika, das seine Entjungferung versteigert.«
»Waaas? Darf man das überhaupt?«
»Scheint so. Ist das nicht heftig? Er hat mir die Internetseite geschickt, muss ich mir nachher nochmal genauer anschauen.«
»Das will ich auch sehen! Vor allem wie die aussieht!«
Sandner bog in die Straße ihres Elternhauses ein, und ihm wurde noch mulmiger zumute.
»Kaum zu glauben, es ist tatsächlich mein Sohn«, hörte Sandner, als er aus dem Auto stieg.
»Konrad, bitte!«, kam von seiner Mutter. Und schon war sie bei Sandner und presste ihn an sich wie einen Kriegsheimkehrer. »Schön, dass du da bist!« Sie roch seltsam, ein neues Parfum. Sie sah müde aus, es schimmerte in ihren Augenwinkeln.
Seit wann hat sie gefärbte Haare? Das Kastanienrot war viel zu kräftig um das weiche, in zarte Falten getunkte Gesicht herum.
Sein Vater klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Hast du das Auto ver-riegelt? Na dann kommt mal rein, Kinder.« Er schob Sandner den Weg zur Haustür hinauf, als müsste er ihm zeigen, wo es langging.
Sandner zögerte, sich so in den Sessel zu werfen, wie er es gewohnt war. Seine Eltern saßen kerzengerade auf dem Sofa, als sei er ihr Anlageberater und nicht ihr Sohn. Nur Nina lümmelte sich wie immer auf der kleineren Couch und blätterte in der Fernsehzeitung.
»Und, läufts gut im Büro?«, eröffnete sein Vater.
»Hm-hm. Viel zu tun.«
»Tja, das haben wir gemerkt.«
Nicht drauf eingehen!, mahnte Sandner sich. »Und bei dir?«
»Das übliche«, seufzte der Oberlandesrichter. »Der angeblich mündige moderne Mensch mit seiner ...«
»... angeborenen Unfähigkeit in seiner eigenen Gesellschaft zu leben«, führte Sandner zu Ende.
»Du sagst es«, bestätigte sein Vater zufrieden.
»Mir ham neue Kassen, schaltete seine Mutter sich ein. So Computerkassen mit Scanner, weißt?«
Er nickte. Die antike Registrierkasse in der Apotheke war also auch Vergangenheit. Prompt hörte er ihr vertrautes Klingeln, als stünde das Ungetüm neben ihm.
»Und, läufts jetzt besser?«
»Naja, is scho einfacher, jetzt schaust halt in‘en Computer ‘nein und weißt direkt, was da ist und was ma bestellen müssen. Das spart schon eine Menge Zeit!«
Er spürte, dass sie noch mehr davon erzählen wollte, aber er hatte keine Lust nach-zufragen. Was war das hier für eine Show? Warum rücken sie nicht einfach mit der Sprache raus?
»Na, dann lasst uns mal was essen. Klaus, unser Bier ist im Keller.« Sein Vater verließ das Zimmer.
Nanu? Das richterliche Begrüßungs-Verhör war noch nie so kurz gewesen. Sandner sah seine Mutter an, die auf den Wohnzimmertisch starrte mit einem Gesicht, als kämpfe sie mit den Tränen.
»Mama? Was ist denn eigentlich –«
»Nicht jetzt, Klaus.« Sie stemmte sich aus dem Sofa und wollte in die Küche. Er stellte sich ihr in den Weg, und sie umarmte ihn sofort. »Ich bin so froh, dass ihr da seids«, flüsterte sie, und es war feucht an seiner Wange.
»Es gibt nur noch Schrott«, sagte Nina und ließ die Fernsehzeitung auf den Wohn-zimmertisch fallen, als sie aufstand.
Als Sandner mit den Bierflaschen in die Küche kam, fiel ihm die ungewohnte Stille auf. Das übliche Geplapper, das Margarine-Klauen, das scherzhafte Herumschubsen, wenn jemand im Weg stand ... Aber war es anders zu erwarten gewesen?
»Und, du warst grad in der Gegend?«, wollte sein Vater wissen, als sie um den Esstisch im Wohnzimmer herum saßen.
»Ein Meeting mit unserem Kunden Yunielle in München. Das sind die mit den Kosmetik...«
»Ich bin nicht senil, mein Sohn. Das Zeug belagert unser halbes Badezimmer. Und was gab es dort Wichtiges zu bereden? Nina, den Käse.«
Sandner zögerte. Aus dem Mund seines Vaters klang es wie eine Lächerlichkeit, dass sich Medien- und Werbeprofis aus ganz Deutschland in München trafen, um Marketing-pläne für einen der führenden europäischen Kosmetikkonzerne zu entwerfen.
»Die Werbemaßnahmen für eine neue Produktlinie, die im –«
»Also doch Werbung, hab ich ja gesagt«, rief Nina mit vollem Mund.
»Nein, nicht nur, das machen die von der Werbeagentur. Wir werden das Ganze mit Medienkooperationen unterstützen.«
Er hielt eigentlich nur inne, um von seinem Brot abzubeißen. Doch niemand reagierte, schaute, fragte nach. »Reichst du mir mal bitte den Senf«, sagte seine Mutter. Sein Vater schielte zum Fernseher, der im Hintergrund tonlos lief. Nina stieß auf irgendetwas Seltsames in ihrem Wurstsalat, das ihre ganze Aufmerksamkeit einforderte.
Er kaute und sah in den Garten, wo ein Eichhörnchenpärchen über den Rasen tollte. Annette hatte oft vor dem Fenster gesessen und den Vögeln und Eichhörnchen im Garten zugesehen.
»Und wie geht es in Berlin?«, fragte seine Mutter.
Sandner kannte diesen Klang in ihrer Stimme. Wie sie ihre Schultern gerade rückte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, als wäre nichts.
Sein Vater setzte sich mit seinem Teller aufs Sofa. Ton an: die Tagesschau.