Leseprobe: Ein Lied für Jess

Eins

Ich kam die Treppe hoch in den Gang vor den Prüfungsräumen. Linoleum, alte Holzbänke, ein gutes Dutzend nervöse Musiker. Manche miteinander tuschelnd, manche in ihre Noten versunken, manche vor sich hinstarrend. Ihnen gegenüber hohe Flügeltüren, hinter denen gedämpft die Laute der Kandidaten zu hören waren, die gerade vorspielten.
Kaum hatte mich der erste Wartende entdeckt, fuhren alle Köpfe herum und musterten mich, den Neuankömmling, den Konkurrenten um die begehrten Studienplätze. Einer von ihnen stierte mich dermaßen abfällig an, dass ich fast wieder umgedreht wäre. Dabei sah er selber aus wie ein Pfau unter Hähnen. Kinnbärtchen, schwarze Jeans über Schnürstiefeln, das weiße Hemd hing heraus und war zerknittert, die Ärmel umgeschlagen, das Sakko darüber, schwarz mit grauen Nadelstreifen. Um seinen Hals hing eine Lederkette mit einer aus Holz geschnitzten Indianerfeder dran. Sein dunkelbraunes Haar war gerade mal lang genug, um sich am Hinterkopf der Kraft eines Haushalts-Gummibandes zu beugen. Zwischen seinen Beinen stand ein bunt beklebter Gitarrenkoffer, wenigstens würden wir nicht im selben Raum vorspielen. Was wohl sein Zweitinstrument war? Etwa Klavier? Er war die Verkörperung des Klischees vom aufgestylten Rocker, der sich in den Jazz verirrte, weil er meinte, er wäre dann etwas Besseres.
Bei der Theorie-Prüfung am Vormittag hatte ich ihn nicht bemerkt. Ich suchte mir einen freien Platz, zwei, drei Meter vermeintlich sicheren Linoleums zwischen uns. Da hörte ich ihn zu seinem langhaarigen Sitznachbarn sagen: Was ich ja gar nicht verstehen kann, sind diese Typen, die hier auftauchen und glauben, mit Chopin oder einem dieser alten Säcke irgendwas reißen zu können! Brav nachklimpern und null Kreativität zeigen! Scheiße, ey! Die stehlen den Dozenten doch nur die Zeit!
Ein Deutscher. Kein Akzent. Was wollte der bloß hier? Ich sah auf, und er mich herausfordernd an, murmelte dann zu dem grinsenden Langhaarigen: Oh je, jetzt habe ich den Maestro verärgert!
Was weißt du denn von Chopin?, sagte ich leise - ohne am Ende des Satzes die Stimme zu heben.
Natürlich nicht soviel wie du!, rief er mit übertrieben aufgerissenen Augen. Er wollte Streit. Die anderen schauten neugierig zwischen und hin und her, froh über die Ablenkung.
Ich antwortete nicht. Es war lächerlich. Ich benutzte den Chopin nur, um darin die Noten meiner Jazz-Komposition Waiting for the Snow zu transportieren. Chopin war mein Lieblingskomponist, er sollte mir Glück bringen.
Erzähl doch mal, hakte der Rocker nach, was wirst du denn vorspielen? Walzer? Hum-ta-ta, hum-ta-ta? Der Langhaarige lachte dreckig, wobei er Krümel des Tabaks, den er gerade auf ein Filterpapier drapieren wollte, auf dem Boden verstreute.
Konzentrier dich besser auf dein eigenes Zeugs, sagte ich und fand mich irre schlagfertig.
Ach weißt du, antwortete er, ich glaube, da brauchst du dir mal gar keine Sorgen zu machen! - so überheblich, dass ich ihn am liebsten meine Noten in sein affektiertes Gesicht geworfen hätte. Denn wahrscheinlich sagte er damit sogar die Wahrheit. So einer wie der bekam doch alles in den Schoß gelegt. In der Schule immer gute Noten, ohne zu lernen. Beim Sport immer vorne dabei ohne Training. Bei den Mädchen immer die besten Chancen, ohne sich sonderlich zu bemühen.
Wann da des net gfoit, kannst ja ham gehn, wod herkomman bist, sagte ich und versuchte, dabei einen besonders heftigen Dialekt zu nuscheln, damit er mich nicht verstand und nachfragen musste. Vielleicht war der Langhaarige ja Österreicher, und ich konnte ihn so auf meine Seite ziehen.
Vergebens.
Wenn ich mir so ansehe, mit was für Langweilern ich hier studieren könnte, sollte ich das vielleicht wirklich tun, sagte er nur.
Manchmal macht es mich wahnsinnig, wie sehr eine unsachliche Beleidigung von einem wildfremden Menschen verletzen kann. Ich suchte noch verzweifelt nach Worten einer eloquenten Antwort, mit der ich Chopin und mich verteidigen konnte, als eine der uns gegenüberliegenden Türen aufschwang und eine kleine lispelnde Frau verkündete: Von Hagenfeldt, Johannesss, bitte!
Er stand auf und riss schwungvoll seinen Gitarrenkoffer in die Höhe. Stets zu Diensten, Gnädigste, rief er, pathetisch ihren Wiener Dialekt nachahmend. Fast hatte ich erwartet, dieser Arsch würde auch ihren Sprechfehler imitieren. Sie lächelte verlegen und trat zur Seite, denn der Kandidat, der gerade geprüft worden war, drängte mit einem Zucken um die wässrigen Augen an ihr vorbei.
Ich war froh, diesen Piefke los zu sein, da drehte er sich an der Tür noch einmal herum und sagte: Keine Bange, Frederic, kannst ja immer noch Klavierstimmer werden! - und verschwand. Die schwere Holztür schloss sich mit einem Rumms, der Langhaarige starrte weiter auf sein Selbstgedrehte und kicherte.
Idioten! Ihr habt ja keine Ahnung! Ich war sauer, und wie immer, wenn ich sauer bin, wusste ich nichts mit mir anzufangen und rutschte unruhig auf der Bank herum, bis mein Nachbar, der sich in seine Noten vertieft hatte, genervt aufschaute. Sorry, murmelte ich. Aber eigentlich war ich dem Deutschen fast dankbar. Sein Gezänk spornte mich nur an! Für einige Momente hatte er das Bild und die Stimme meiner Mutter aus meinem Kopf verdrängt, und das tat gut. Und jetzt? Stand sie wieder mitten im Flur und sah mich mit diesem Blick an, dem man keineswegs Verachtung unterstellen konnte. Der aber alles andere als aufmunternd war.
Und du glaubst wirklich, dass das das Richtige für dich ist?, hörte ich sie sagen, heute in der Frühe, als sie mich in ihrem roten Frottee-Bademantel zur Tür brachte und ich nach Wien aufgebrochen war. Und ihr Unterton lieferte gleich die Antwort mit, dass es mir den Magen umdrehte. Oh, bitte nicht jetzt! Nicht schon vor der Prüfung! Es grummelte in meinem Bauch, ich hatte wieder mal zu wenig gegessen. Dazu der Kaffee ..., wenn bloß diese verdammten Blähungen -
Ich versuchte, mich auf meine Stücke zu konzentrieren, in Gedanken durchzuspielen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Keine Chance. Die Visage dieses Deutschen ging mir nicht aus dem Kopf. Warum musste der sich ausgerechnet mich für seine Streitlust aussuchen? Ich lauschte auf die Mischung der gedämpften Klänge, die auf den Gang drangen. Da musste doch irgendwo billiger Rock'n'Roll dabei sein, den alleine ich dem Typen zutraute. Aber alles, was ich aus der Klang-Melange an Gitarrenmusik heraushören konnte, hatte tatsächlich etwas mit Jazz zu tun.
Ich bemerkte die Dame erst, als meinen Namen über mich hinwegschrie, als säße ich nicht vor ihr. Ich folgte ihr in den Saal, der links nebem dem lag, in den der Rocker aus Deutschland verschwunden war.
Das erste, was ich sah, war dieser Bösendorfer-Flügel. Er glänzte mich poliert an, und meine Finger lechzten schon nach den Elfenbeintasten, ich verzehrte mich nach dem Klang dieses kostbaren Instruments! Ich nahm die aufgereihten Dozenten der Prüfungskommission kaum wahr, irgendwer sagte: Grüß Gott, Herr Haas, nehmens nur gleich Platz. Als Begleitung standen ein Bassist und ein Schlagzeuger bereit, die mich aufmunternd anlächelten.
Womit wollens denn beginnen?, fragte ein weißhaariger Professor mit Brille mit halben Gläsern und schaute mich über dieselben hinweg an, als ob ich an seiner Tür geklingelt hätte um ihm etwas zu verkaufen.
Ich räusperte mich. Zum Anfang ein Heywood, dann -
Geht das ein bisschen lauter, bitte?, unterbrach mich der Professor neben dem Weißhaarigen. Glatze, Nickelbrille, Seidenschal. Und, verdammt!, dasselbe Hochdeutsch wie der Typ eben auf dem Flur! Meine Hände schwitzten.
Sicher, sagte ich, etwas mutiger. Also, zuerst Heywood, dann eine Komposition von mir, und -
Ja, auf den Schnee warten wir ja alle noch dieses Jahr, unterbrach mich der Glatzkopf lachend, dem meine Titelliste natürlich vorlag. Dann fangen Sie mal an, Herr Haas. Die anderen Erhabenen nickten, und ich setzte mich an den Bösendorfer, die Handflächen an meiner Hose trocken reibend.
Tief einatmen, ein Blick zu meinen Mitmusikern, los. Ein Heywood-Standard zum Warmwerden. Nach zwei Takten war ich in meiner Welt. Kein Schweiß mehr, nur noch der Klang dieses wunderbaren Flügels, das dezente Schieben der Drums, sattes Fundament vom Kontrabass. Ich schwebte förmlich. So gute Musiker, und ich mittendrin, was für ein Genuss! Variationen im zweiten Chorus und danach nur noch Improvisationen. Ich packte alles aus und legte richtig los, hämmerte meine Wut auf den Preußen-Schnösel in die Tasten. Oder war es meine Mutter, die ich ständig irgendwo hinter meinem Rücken lauern meinte?
Die versammelten Eminenzen nickten wohlwollend hinter ihren Tischen, und ich stimmte um so wagemutiger Waiting for the Snow an. Wie vollkommen kamen mir die Melodie, die Übergänge, die Begleitung vor! Das war es, das war ich, das war Robert Haas pur! Ich würde es meiner Mutter schon noch zeigen und ihr klar machen, dass sie lange auf den Tag warten könnte, an dem ich ihr recht gab: Mama, ich werde doch lieber Lehrer!
Dann kam das Blattspiel - überhaupt kein Problem. Und wenn man den C-Teil nun mit der Moll-Parallelen ...? Ich ahnte, worauf sie hinauswollten und spielte es, bevor sie die Fragen zu Ende gesprochen hatten. Sie nickten immer heftiger, immer wohlwollender. Einer lächelte sogar breit. Also, dann bitte das Zweitinstrument, sagte er. Ich stand auf, der Schlagzeuger, vielleicht bald mein Kommilitone?, machte mir Platz. Ich nickte dem Bassisten zu, und wir setzten ein, als spielten wir schon jahrelang zusammen, blindes Verständnis. Der Schlagzeuger spielte eine einfache Akkordbegleitung und die Melodie auf dem Klavier, es lief hervorragend! Wir ergänzten uns phänomenal. Ich hatte gehört, dass sie Kandidaten, bei denen die Begabung offensichtlich war, sofort ein Stipendium anboten. Das musste einfach mein Name sein, den der Weißhaarige da auf seinen Block schrieb. Er schielte noch einmal kurz auf seine Notizen, als wir in einem perfekten Ritardando zum Ende kamen, dann wieder über die Brillengläser hinweg auf mich, entdeckte, dass ich wie erwartet noch da war, der frohen Kunde auf meinem Platz hinter dem Schlagzeug harrend. Er blickte nach Zustimmung fragend in die Runde, und ich konnte mir ein Lächeln nicht mehr verkneifen.
Erster Versuch – Treffer! Das sollte der arrogante Rocker mir erst einmal nachmachen! Ich sah mich schon vor meiner Mutter stehen, ihr Gesicht genießend, wenn ich es ihr erzählte. Was für ein glorreicher Moment würde das sein! Ob sie mich umarmen würde, vielleicht sogar vor Freude eine kleine Träne vergießen? Würde sie sagen, dass sie stolz auf mich ist? Oder es nur achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass ich tatsächlich diesen Lebensweg einschlagen sollte, den sie mir immer so vehement auszureden versuchte?
Herr Haas, sagte der Weißhaarige auf Hochdeutsch mit einer wienerischen Färbung, danke für Ihren Vortrag. Das war sehr beeindruckend. Das Ergebnis hängt ab kommendem Montag am Sekretariat aus. Und bitte, seiens nicht traurig, wenn es dieses Mal noch nicht klappt. Ich bin mir sicher, dass ich im Namen aller hier spreche, wenn ich sage, dass wir uns jetzt schon auf ihren Vortrag im nächsten Semester freuen. Auf wiederschaun.
Nicht klappt? Nächstes Semester? Kein Stipendium? Der Bassist und der Schlagzeuger machten gleichgültige Gesichter und flüsterten miteinander. Ich bedankte mich leise und holte meine Noten vom Klavier. Die losen Blätter vom Snow fielen hinunter, ich musste fast unter den Flügel kriechen, um an sie heranzukommen. Der Vorsitzende hatte seine Brille vor sich auf den Block gelegt und sah mir regungslos zu. Die anderen taten, als ginge sie das alles gar nichts an.
Ich wusste nicht mehr, durch welche der vielen dunklen Mahagoni-Türen ich gekommen war und suchte nach der Dame, die mich hereingebeten hatte. Sie saß auf ihrem Platz am Ende der Tischreihe und starrte auf ein leeres Blatt Papier vor sich. Offensichtlich war ich der letzte Kandidat des heutigen Tages in dieser Gruppe.
Es war eine Flügeltür gewesen, ich entdeckte sie und ging drauf zu. Dafür brauchte ich etwa eine halbe Stunde, so kam es mir zumindest vor, denn ich watete durch Nebel und hatte schwere Beine wie in einem Traum, in dem man davonrennen will, aber nicht vom Fleck kommt. Wie in Trance griff ich die Klinke. Die Tür stemmte sich gegen mich, als sträubte sie sich, von einem weiteren Prüfungsversager benutzt zu werden. Auf dem verwaisten Gang rannte mich der Deutsche mit seinem Gitarrenkoffer fast über den Haufen.
Du schon wieder!, meckerte er und lief um so eiliger auf die Treppe zu. Sein Gesicht war eine Maske der Enttäuschung. Er polterte die breiten Stufen hinunter, schaute von fast ganz unten noch einmal hoch und rief: Hum-ta-ta, hum-ta-ta! Dann lachte er gehässig, als wüsste er ganz genau, was mir widerfahren war, und war weg.

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